Wir Menschen sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen immerzu. Wir nehmen unsere Umwelt durch differenzierte Wahrnehmungen und durch die Auswertung von Sinnesreizen in uns auf. Nicht alles ist uns hierbei bewusst, denn viele Wahrnehmungsprozesse laufen im Unterbewusstsein ab. Auch Räume werden mit allen Sinnen wahrgenommen. Die Entwicklung von Kindern, also auch von kleinen Matheforschern, wird maßgeblich von ihrer Wahrnehmungstätigkeit geprägt. Und genau darum soll es im heutigen Blogbeitrag gehen.
Aus der Bedeutung, die die Wahrnehmung über die Sinnesorgane für generelle Erfahrungsmöglichkeiten spielt, ziehen Erziehungswissenschaftler den Schluss, dass (früh)kindliche Bildung zuallererst ästhetische Bildung ist. Ästhetik beruft sich hierbei auf den griechischen Begriff Aisthesis und bedeutet ursprünglich die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung. Die Bildung der Wahrnehmungserfahrung, sprich die ästhetische Bildung, ist für das spätere Leben prägend. Deshalb gibt es gute Gründe, den Kindern eine Umwelt zu bieten, die ihre Lust am Wahrnehmen unterstützt. So können Kinder zum Beispiel in Ateliers oder Werkstätten innere und äußere Bilder sammeln und gestalten und auf dieser Grundlage sowohl ihr ästhetisches als auch ihr mathematisches Denken entfalten. Ästhetisch gestaltete Räume können deshalb die kindliche Wahrnehmung anregen und Kinder auf vielfältige Weise herausfordern.
In einer Gesellschaft von heute, wo alles immer bunter, immer vielfältiger und immer kurzweiliger erscheint, ist die Gefahr der Reizüberflutung enorm groß. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass Kinder durch Räume, in denen sie sich einen Großteil ihrer Zeit aufhalten – also in Kitas, Grundschulen und zu Hause – nicht zusätzlich von Reizen überflutet werden, jedoch dennoch angemessene Anregungen ihrer Sinne erfahren, die sowohl ins Bewusstsein als auch ins Unterbewusstsein eindringen können. Eine ausgewogene Balance von den kindlichen Geist anregenden Sinnesreizen einerseits und beruhigenden sowie entspannenden Gestaltungs-elementen andererseits ist deshalb eine Aufgabe und gewiss auch Herausforderung für Pädagogen und Eltern.
„Eine sinnenreiche Umgebung regt die Wahrnehmungstätigkeit der Kinder auf positive Weise an. Akustische Reizüberflutung und optische Überreizung durch ein zuviel an Geräuschen, Farbe, Form und Material können zu Überforderung, Orientierungsverlust, Konzentrationsmangel, Hyperaktivität oder Rückzug führen. Die Kunst der Raumgestaltung besteht vor allem darin, Reizüberflutung zu vermeiden und im hohen Maße auf die sinnesfördernden Impulse ausgewählter Materialien zu setzen.“ (Franz 2012, S. 96)
Da dem Lernen mit allen Sinnen also eine enorme Bedeutung zukommt, sollen die sieben Sinne nun vorgestellt werden. Dies geschieht zwar einzeln und nacheinander, aus der Forschung weiß man jedoch, dass die Sinnessysteme zusammenarbeiten und Menschen Informationen stets über mehrere Sinneskanäle wahrnehmen (Synästhesie).
Taktile Wahrnehmung: Tast- und Spürsinn
Die Haut als größtes Spürorgan des Menschen ist gerade für sehr junge Kinder das wichtigste Kommunikations-system. Kinder spüren, wie sie angefasst, gestreichelt und gehalten werden. Sie selbst erfahren durch das eigene Betasten ihren Körper. Die spätere verbale Sprache baut auf dieser ersten Sprache, der taktilen Kommunikation auf. Durch das Tasten und Spüren mit den Händen, den Füßen oder mit dem Mund „begreifen“ kleine Matheforscher räumliche Dimensionen und können sich selbst und ihre Umwelt immer besser in Beziehung zueinander setzen. In Bezug auf die Entwicklung des mathematischen Denkens können beispielhaft folgende kindliche Wahrnehmungs- und Raumerfahrungen genannt werden:
- vielfältige Materialeigenschaften wahrnehmen, wie z.B. weich, hart, rau, glatt, warm, kalt, kuschelig, kratzig, wellig, kantig, …
- Wasser in verschiedenen Gefäßen umfüllen und in allen Variationen erleben,
- Barfuß auf vielfältigen Untergründen laufen,
- Formen und Figuren nur mit den Händen ertasten,
- auf den Rücken gemalte Formen und Figuren bzw. geschriebene Zahlen erfühlen,
- Längen abschreiten und mit Körpermaßen messen,
- Gewichte mit den Händen abwiegen,
- mit den Händen matschen, Ton formen, kleistern, malen, gestalten,
- Erde, Sand, Steinchen und andere Naturmaterialien durch die Hände rieseln lassen.
Kinästhetische Wahrnehmung: Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn
Das Wort Kinästhetik besteht aus einer Kombination der griechischen Wörter kinesis (Bewegung) und aesthesie (Wahrnehmung). Kinästhesie bedeutet die Wahrnehmung der Raum-, Zeit-, Kraft- und Spannungsverhältnisse der eigenen Bewegungen. Das kinästhetische Sinnessystem gehört neben dem Tast- und Gleichgewichtssinn zu den ersten drei funktionierenden Systemen des ungeborenen Kindes. Propriozeptoren, die für die kinästhetische Wahrnehmung zuständig sind, befinden sich im tiefer gelegenen Gewebe des gesamten Körpers, wie z.B. in Muskeln, Sehnen und Bändern. Mit ihrer Hilfe werden Reize und Informationen aus dem Körperinneren empfangen. Für die Raumgestaltung bedeutet dies, dass Kinder beim Lernen (auch von Mathematik) in Bewegung sein dürfen, denn Bewegung ist der Motor der kindlichen Entwicklung.
Vestibuläre Wahrnehmung: Gleichgewichtssinn
Für die Aufrechthaltung des Körpers und die Orientierung im Raum ist der Gleichgewichtssinn verantwortlich. Das Gleichgewichtsorgan befindet sich im Innenohr.Durch diesen Sinn ist der Mensch in der Lage, Drehbewegungen und Beschleunigungen wahrzunehmen und sich darauf einzustellen. Der Gleichgewichtssinn ist das alles vereinende Bezugssystem, welches die Grundbeziehungen formt, die ein Mensch zur Schwerkraft und seiner physischen Umwelt hat. Für kleine Matheforscher sind demzufolge folgende Raumerfahrungen wichtig:
- Hüpfspiele auf zwei Beinen und auf einem Bein,
- schaukeln, wippen, balancieren, …
- sich drehen bis zum Schwindligwerden,
- einen Hang hinunter rollen,
- auf dem Karussell immer schneller fahren.
„Ein gut ausgebildeter Gleichgewichtssinn bestimmt die Lebensqualität wesentlich, aber auch die Ausbildung des inneren Gleichgewichts ist für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung bestimmend.“ (Wilken 2003, S. 121)
Gustatorische Wahrnehmung: Geschmackssinn
Der Mund ist bei sehr jungen Kindern nicht nur Geschmacksorgan. Kleinste Matheforscher entdecken und entscheiden Sachen auch dadurch, dass sie Dinge aus ihrer Umgebung in den Mund stecken. Durch dieses starke Bedürfnis erkunden sie ihre Welt und es gelingt ihnen somit sich ein Bild von ihr zu machen. Kinder entwickeln ihren persönlichen Geschmack dadurch, dass sie ausprobieren, was sie gut oder schlecht empfinden. Der Geschmackssinn ist stark mit Gefühlen und einem komplexen Sinneseindruck vor allem bei der Nahrungsaufnahme verbunden. Deshalb ist es von Bedeutung, dass gemeinsame Rituale bei den Mahlzeiten so gestaltet werden, dass die Kinder vielfältige Erfahrungen in Bezug auf das Essen, bestimmte Gerichte oder Nahrungsmittel sammeln können.
Bezogen auf die gustatorische Wahrnehmung ist es deshalb wichtig, dass besonders ganz kleine Matheforscher alles (Ungefährliche) in den Mund nehmen und erkunden dürfen. Größere Matheforscher wollen beim Zubereiten von Mahlzeiten mithelfen und nach Rezeptvorgaben kochen, backen und verkosten. Unter diesem Gesichtspunkt bekommen meine Forscherkarteien zur „Gummibärenmathematik“, zur „Smartiesmathematik“ oder auch zur „Schokoladenmathematik“ noch einmal eine ganz neue Bedeutung! Oder? Nämlich: Lernen mit allen Sinnen, heißt auch Lernen und Naschen! Und die Erfahrung: „Mathematik ist voll lecker!“
Olfaktorische Wahrnehmung: Geruchssinn
Das für das Riechen zuständige Sinnesorgan ist die Nase. Hier werden alle Gerüche empfangen und an das Gehirn weiter geleitet. Auch Gerüche können Gefühle und Emotionslagen von Menschen beeinflussen sowie längst vergessene Erinnerungen wachrufen, denn „Die Nase ist das Gedächtnis der Vergangenheit, oft der Kindheitserinnerungen“ (Wilken 2003, S. 101). Geruchsvorlieben oder Geruchsabneigungen von Erwachsenen gehen zurück auf die olfaktorischen Sinneswahrnehmungen der frühen Kindheit. Der Geruchssinn ist bei der Geburt bereits sehr gut ausgebildet und ein Neugeborenes erkennt seine Mutter am Geruch. Der Geruchssinn eines Menschen hat Einfluss auf sein Sozial- und Bindungsverhalten. Insbesondere Kinder reagieren bei unangenehmen Gerüchen ablehnend oder bei für sie angenehmen Gerüchen sehr zugewandt anderen Menschen und natürlich auch Räumen gegenüber.
Beim Lernen mit allen Sinnen darf also geschnuppert und geschnüffelt werden, z.B. das gutriechende Holz in der Werkstatt oder den ekligen Farbgeruch bei frischen Malerarbeiten. Gummibärchen und Schokolade hingegen duften verführerisch.
Auditive Wahrnehmung: Hörsinn
Als auditive Wahrnehmung bezeichnet man die Sinneswahrnehmung von Schall. Zur Wahrnehmung des Schalls dienen Sinnesorgane, die durch Schwingungen aus der Umgebung des Menschen stimuliert werden. Das entscheidende Organ hierfür ist das Ohr. Die auditive Wahrnehmung kann nonverbal (z.B. Töne und Geräusche) oder verbal (Sprache) erfolgen. Hierbei spielt die Lautstärke (laut oder leise), die Frequenz (hoch oder tief) und auch die Dauer (lang oder kurz) von Tönen eine besondere Bedeutung.
Das Hören und der Bereich der Emotionen stehen ebenfalls in einem engen Zusammenhang, denn das Ohr und das Gefühlszentrum im Gehirn sind über Nervenfasern direkt miteinander verbunden. Durch das Hören erschließen wir Menschen also wiederum unsere Gefühlswelt. Wer gut hört, kann zudem andere verstehen, sich mit ihnen austauschen und sich im Alltag sicher bewegen.
Folgende auditive Wahrnehmungserfahrungen können das mathematische Denken besonders gut fördern:
- Anzahlen mit einem Gegenstand auf Holz, Teppich, Fliesen oder andere Materialien klopfen,
- beim Treppehochstampfen oder Runterspringen die Stufen zählen,
- hinhören, aufhorchen, zuhören, lauschen,
- still sein, flüstern, brabbeln, plappern, sprechen,
- lange bzw. kurze (laute bzw. leise) Töne und Klänge auf einem Instrument erzeugen,
- Tanzen, sich im Rhythmus wiegen, klatschen,
- Sing-, Kreis-, Finger- und Tanzspiele mitmachen.
Visuelle Wahrnehmung: Sehsinn
Als visuelle Wahrnehmung wird die Aufnahme und Verarbeitung visueller Reize verstanden. Das Organ zur Aufnahme optischer Eindrücke ist das Auge. Im Gehirn werden aufgenommene Informationen weiter verarbeitet und mit Erinnerungen abgeglichen. Hierbei spielen Farben, Formen und Lichtverhältnisse eine besondere Rolle.
Besonders folgende visuell-räumlichen Wahrnehmungs-fähigkeiten werden von vielen Mathematikdidaktikern als notwendig für den Erwerb mathematischer Kompetenzen betrachtet:
- Visuelle Differenzierung: Ähnlichkeiten und Unterschiede von Gegenständen, Formen und Figuren erkennen;
- Figur-Grund-Wahrnehmung: aus einem komplexen Hintergrund bzw. einer Gesamtfigur eingebettete Teilfiguren erkennen und isolieren;
- Auge-Hand-Koordination (visomotorische Koordination): das Sehen mit dem eigenen Körper oder Teilen des Körpers koordinieren;
- Räumliche Orientierung: sich real und mental im Raum zurechtfinden, Erkennen und Beschreiben räumlicher Beziehungen, Wiedererkennen von Figuren in verschiedenen räumlichen Lagen;
- Räumliches Operieren: Ausführen mentaler Bewegungen und Handlungen;
- Visuelles Gedächtnis: aus dem Gedächtnis etwas nachbauen, nachlegen oder nachzeichnen.
Abschließen möchte ich meinen Beitrag mit einem Zitat:
„Kindliche Wahrnehmung zu fördern bedeutet, Kindern sinnenreiche Räume – drinnen wie draußen – zur Verfügung zu stellen und diese Umgebung so vorzubereiten, dass sie alle Sinne gleichermaßen stimuliert und zu ganzheitlicher Sinnestätigkeit anregt.“ (Franz 2012, S. 103)
Und ganz am Ende bekommst du auch heute wieder einige Anregungen für die eigene Selbstreflektion:
- Lass dich mit verbundenen Augen und mit Ohrstöpseln barfuß durch die Kita, durch deine Schule oder durch deine Wohnung führen. Was und wie hast du dich dabei gefühlt? Gab es Räume oder Bereiche, in denen du dich gut orientieren konntest?
- Lass dich mit verbundenen Augen bei vollem Betrieb durch alle Räume deiner Kita oder deiner Schule führen. Welche Unterschiede hast du bezüglich der Akustik bemerkt? Gibt es leise, gedämpfte, angenehme, laute, schrille, nachhallende Bereiche?
- Lass dich mit verbundenen Augen durch alle Räume deiner Kita oder Schule führen. Welche Räume hast du am Geruch erkannt? Welche Gerüche fandest du anregend, welche abstoßend?
Sorry, dass es heute mal wieder etwas länger geworden ist. Aber ich hoffe es waren ein paar spannende Informationen bzw. Anregungen für dich dabei. Lass gerne wieder von dir hören und hinterlasse einen Kommentar.
Bis zum nächsten Mal, wenn es um den Zusammenhang zwischen Raum und Spiel geht, eure Mandy Fuchs
Literatur
Franz, Margit (2012): Raumgestaltung für die Jüngsten. In: Raum braucht das Kind: Anregende Lebenswelten für Krippe und Kindergarten. Verlag das netz, Weimar, Berlin, 2012.
Wilken, Hedwig (2003): Kursbuch Sinnesförderung. So lernen Kinder, sinnreich zu leben. Verlag Don Bosco, München, 2003