Von Freigeistern und Sicherheitsdenkern

Wenn über Kinder im Zusammenhang mit dem Lernen gesprochen wird, dann geht es oft um einen individuellen Blick auf jeden Lernenden. Denn davon abgeleitet sollen genau die konkreten Bedürfnisse eines jeden Kindes erkannt werden, um dementsprechend individuelle Lernangebote zu gestalten. Dies gilt sowohl in der Kita als auch in der Grundschule.

Beim Lernen in der Grundschule kommt hinzu, dass vor allem durch eine differenzierte Unterrichtsgestaltung die besonderen Lernausgangslagen aller Kinder berücksichtigt werden sollen. Schauen wir mal genauer hin. Welchen Blick haben wir auf die Kinder? Sehr oft begegnet uns da eine sehr einseitige Sichtweise, die ausschließlich auf die kognitiven Erfahrungen und Kompetenzen der Kinder gerichtet ist. Und was kommt dabei heraus? Ganz genau! Drei Gruppen! Nämlich die „Leistungsschwachen“, das „Mittelfeld“ und die „Leistungsstarken“ (Ja genau in dieser Reihenfolge.). Wenn ihr Interesse habt, mal eine andere Perspektive auf unsere lernenden Kinder einzunehmen, dann lade ich euch mit diesem Blogbeitrag gern dazu ein.

Ein kindorientierter Lernansatz, von dem hier schon des Öfteren die Rede war, ist einerseits darauf gerichtet, die individuellen Stärken der Kinder in den Blick zu nehmen und auf der Grundlage des neuen Kindbildes, welches das Kind als Individuum wertschätzt und seine individuellen Bedürfnisse ernst nimmt, Lernumgebungen so zu gestalten, dass jedes Kind entsprechend seiner Lernausgangslagen sein persönliches Potenzial weiter entfalten kann. Andererseits geht es beim Umsetzen einer neuen Lernkultur darum, den Kindern viele Möglichkeiten der aktiven Eigenverantwortung für ihr Lernen zu übertragen. Das Entdecken von mathematischen Phänomenen in Forscherstunden, das Bearbeiten eines eigenen Projektthemas oder das Erarbeiten und Gestalten von Lapbooks (auf der Grundlage selbst aufgeworfener Forscherfragen) entspricht genau diesem Ansatz, ist jedoch für Kinder eine enorme und sehr komplexe Herausforderung, die eine Fülle von unterschiedlichen Kompetenzen verlangt. Jedes Kind bewältigt diese Anforderungen auf ganz unterschiedliche Art und Weise und benötigt aufgrund seiner ganz persönlichen Lernbedürfnisse, seines speziellen Lernstils oder auch seiner individuellen Vorerfahrungen sehr verschiedene Wege der Lernbegleitung.

Deshalb möchte ich drei verschiedene und mal ganz andere Dimensionen unterschiedlicher Lernausgangslagen von Lernenden vorstellen, nämlich die „Freigeister“, die „Mutigen“ und die „Sicherheitsdenker“. Sie entsprechen zwar nicht der kompletten Vielfalt unserer Kinder in heterogenen Lerngruppen, machen aber grundsätzlich unterschiedliche Möglichkeiten einer angemessenen Lernbegleitung sichtbar. Entscheidend dafür sind genaue Beobachtungen der Kinder im Alltag und in Lernprozessen.

Mögliche Dimensionen unterschiedlicher Lernausgangslagen von Kindern:

„Freigeister“: Gemeint sind Kinder mit einem großen Potenzial an kreativen Ideen, evtl. bereits vielfältigen Erfahrungen im selbstständigen Erarbeiten von Lernthemen bzw. Anfertigen von fantasievollen Eigenproduktionen. Komplexe Themen sind für sie genau die richtige Herausforderung, ihre Stärken im Problemlösen, im kreativen Schreiben und Gestalten umzusetzen. Oft brauchen Freigeister nur einen Anstoß in Form eines Rahmenthemas und schon legen sie los. Sie wissen schnell, wo sie welche Informationen finden und können sich selbst und Materialien gut organisieren. Es kann dabei durchaus sein, dass Freigeister nicht so einen großen Wert auf die Rechtschreibung oder auf Exaktheit und Genauigkeit legen, sondern sich eher intuitiv von ihren Einfällen „treiben“ lassen. Ausführliche inhaltliche Vorgaben können sie eher verunsichern oder gar ausbremsen. Offen sind sie jedoch für strukturgebende Hinweise und Ideen.

„Mutige“: Hier sind Kinder gemeint, die über vielfältige Kompetenzen und tolle Ideen zur Umsetzung ihrer Vorhaben verfügen, jedoch gern auch Tipps, Hinweise und Materialien vom Lernbegleiter nutzen. So kann es sein, dass manche Kinder schon sehr selbstständig an ästhetischen und handwerklichen Gestaltungsaufgaben arbeiten, jedoch beim Schreiben von Texten bzw. beim Zusammentragen wichtiger Informationen noch Unterstützung brauchen. „Mutige“ benötigen zu unterschiedlichen Themen vielleicht auch unterschiedliche Wege der Lernbegleitung. Oft wollen sie auch einfach nur gefragt werden, was genau sie brauchen. Oder sie benötigen einfach einen ermutigenden Blick, der meint „Du bist auf einem guten Weg.“ Dies schafft Bestätigung, wieder neue Lernmotivation und ermuntert sie zu immer mehr Eigenverantwortung beim forschenden und entdeckenden Lernen.

„Sicherheitsdenker“: Gemeint sind hier zum Beispiel Kinder, die eher zurückhaltend und durch mangelnde Erfahrungen im eigenverantwortlichen Nutzen von Büchern und anderen Lernmaterialien verunsichert reagieren, wenn es um komplexe Herausforderung wie das Erstellen von Lapbooks oder das Arbeiten an eigenen Themen und Forscherfragen geht. Diese Kinder hatten vielleicht bisher kaum Gelegenheiten, selbst kreativ tätig zu werden und somit ihre individuellen Stärken zu zeigen. Vielleicht wurden ihre besonderen Potenziale bisher auch von anderen Problemlagen (z.B. Lernbeeinträchtigungen im sozial-emotionalen Bereich) überschattet, so dass sie viel Zuspruch und ein besonderes Verständnis benötigen. Vielleicht aber wurde diesen Kindern bisher immer alles vorgegeben und nun reagieren sie unsicher, weil sie plötzlich Eigenverantwortung übernehmen dürfen und sollen. Zu den „Sicherheitsdenkern“ können auch besonders begabte Kinder gehören, die durch einen hohen Selbstanspruch eher zur Perfektion neigen und sich dadurch selbst ausbremsen. Das Selbstvertrauen in ihre eigenen Leistungen kann und muss deshalb bei kleinen „Sicherheitsdenkern“ durch ganz verschiedene Impulse der Lernbegleitung gestärkt werden, evtl. durch eine Reduktion von Teilaspekten, durch eine größere Offenheit oder aber auch Eingrenzung bzgl. von Vorgaben, durch besondere Vorlagen (mit wenig Text, mit größerer Schrift, mit mehr Bildelementen, …) oder durch das Arbeiten mit einem Lernpaten.

Die spannende Herausforderung besteht demzufolge darin, die vielfältigen und einzigartigen Lernausgangslagen und somit Potentiale eines jeden zu erkennen und daran anknüpfend weiter zu entfalten. Dies erfordert stets eine sensible Lernbegleitung sowie eine angemessene Balance von impulsgebenden Anregungen, konkreten Vorgaben und das Gewähren von individuellen Freiheiten für die Kinder.

Mandy Fuchs

7 Kommentare zu „Von Freigeistern und Sicherheitsdenkern“

  1. Sehr intressanter Text und liegt grade auch in meinem privaten Sichtfeld ( im Moment ohne Lösungsweg). Mein privates Sichtfeld liegt auf einen Sicherheitsdenker, der eine hohe sensible Gefühlswelt hat, theoretisch vieles kann und von der schulischen Wel tals Leistungsschwach eingestuft wird, was die Situation in der Grundschule (1 Klasse) verschlimmert für Kind und Eltern.
    Aber intressanter Text. Danke
    Liebe Grüsse

  2. Danke für diesen Artikel. Ich wünschte mir, unsere Kinder hätten mehr Lehrer mit diesem Blick auf Kinder und ihr Lernen gehabt. Leider besteht da wirklich noch einiger Lernbedarf bei vielen Lehrern, die ich in meinem Umfeld sehe und kenne. Und ich ertappe mich selber immer wieder dabei, wie ich in diesem Umfeld vergesse, dass ich nur begleiten und beobachten muss, dass ich mich lösen kann, vom reinen Leistungsgedanken und es dann allen, Lehrern wie Schülern und Eltern damit eigentlich viel besser geht. Solche Inputs sind für mich immer wieder willkommene Anstösse, meinen Weg zu gehen.
    Danke dafür.

    1. Vielen Dank fürs Lesen! Und vielen Dank für deinen so wertschätzenden und persönlichen Kommentar. Es ist schön zu erfahren, dass es Gleichgesinnte gibt!!! Liebe Grüße!

    1. Den idealen „Unterrichts“Ansatz wird es meiner Meinung nach nicht geben. Pädagogik allgemein und auch Bildungs- und Unterrichtsgestaltung bleibt Beziehungsarbeit … wertschätzend und auf Augenhöhe, denn wir Menschen und eben auch die Kinder sind ganzheitliche und autonome Wesen.

      1. Das ist natürlich richtig, aber ich habe so eine kleine Freidenkerin zu Hause, die noch nicht einmal ertragen kann, wenn man ihr etwas zeigen will (alles muss selbst erarbeitet werden) und ich sorge mich jetzt schon wie es nächstes Jahr dann in der Schule wird. Die kleine Schwester hingegen ist ein „Mischtyp“ aus allen dreien scheint mir und auch da passen meine Hilfsansaetze oft nicht.
        Bin daher für alle Tipps dankbar 🙂

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